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Volker Grassmuck: Hermann Rotermund hat mitgewirkt, das Konzept geschrieben für die Produktion des Internetangebots von Radio Bremen und hatte die Koordination der Webseite der ARD, also www.ard.de von 1996-98, war Projektleiter bis Ende vergangenen Jahres des ARD Onlinekanals, des ersten Multimediakanals im deutschen Digitalfernsehen und ist heute konzeptionell und beratend tätig im Bereich der digitalen Medien, des Digitalfernsehens, des Bereichs I-Box und Internet.

Hermann Rotermund
Wenn ich in der Ankündigung des Vortrags als Literaturwissenschaftler „denunziert“ werde, nehme ich das natürlich gerne entgegen. Das verweist auf meine Herkunft und das ist auch meine Lieblingsbeschäftigung nach wie vor, aber seit sechs Jahren verdiene ich ausschließlich Geld in den Bereichen Internet und Digitalfernsehen. Ich hätte natürlich auch zu dem ersten Teil des Panels, also zu den Thesen zum Digitalfernsehen und Digitalradio, einige Anmerkungen und auch zum Teil dezidiert abweichende Meinungen. das lässt sich dann in der Diskussion hoffentlich auch noch machen.

Ich möchte zum Thema der digitalen Archive und ihren Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Reihe von Abschweifungen vortragen, die alle vielleicht zusammengenommen einen Rahmen bilden, in dem man diese Frage diskutieren kann. Ich habe aber selbst keine technisch-praktischen Thesen und Schlussfolgerungen. Die können sich vielleicht aus der Diskussion ergeben. Um diese Fragen ist der Dialog notwendig und überfällig, und er hat bisher nur sporadisch an wenigen Punkten begonnen.

Vor der ersten Abschweifung nur ein Satz von Rudolf Borchardt, einem Schriftsteller: „Jede Überlieferung ist zerstört“, sagt er. Es gibt nach seiner Auffassung keinen geistigen Unterschied zwischen einer zerstörten Überlieferung und einer erhaltenen Überlieferung, weil die Überlieferung ja keinen Kontext transportiert. Die Überlieferung eines Inhalts überliefert nie mit, wie dieser Inhalt entstanden ist.

Erste wirkliche Abschweifung: Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. In einer mündlichen Kultur, also 550 Jahre zurück, sorgte die Begrenztheit des individuellen Gedächtnisses dafür, durch Vergessen all dessen, was nicht mehr relevant war, eine Erinnerung zu organisieren. Die Menschen mussten sich also das organisieren, was für das Funktionieren alltäglicher Zusammenhänge und des eigenen individuellen Lebenszusammenhangs, und auch des kulturellen Zusammenhangs, in dem sie lebten, benötigten. Das World Wide Web oder die heutigen digitalen Medien insgesamt leisten eine Art Gedächtnisarbeit, indem sie Speicherressourcen für menschliches Wissen bereitstellen. Das ist aber nur ein Teil dieser Arbeit. Es wird nämlich kein Vergessen organisiert und gewährleistet, keine Selektion, keine Aufarbeitung. Die ist im Speichern nicht enthalten. Die digitalen Medien sind in dieser Hinsicht eben ein bloß statisches Gedächtnis, in dem Wissen nur akkumuliert wird, und kein dynamisches Gedächtnis, das in Erinnerungsprozessen Wissen auswählt und bewertet, und genau das passiert uns Menschen ja jeden Tag.

Ich habe mir überlegt, ob ich hier eine Powerpoint-Präsentation mache und Sie die Thesen, die ich hier vortrage, im Schriftbild sehen, damit es sozusagen eine einheitliche Vereinbarung über das gibt, was ich hier sage. Was jetzt passiert, ist also, dass wir gleich hier in vierzig Köpfen vierzig Versionen davon haben. Das würde aber sowieso passieren, wenn die Schrift dort erlischt und wenn Sie morgen versuchen, sich an das zu erinnern, was ich hier sage. Bei dem im Internet gespeicherten Dokumenten gibt es eine ähnliche Ungewissheit: Niemand kann sicher sein, ob gerade die aktuelle Fassung eines Dokuments aufgerufen ist. Die Information ist in beliebig vielen Kopien auf verschiedenen Servern, Proxies und bei Nutzern lokal gespeichert. Das ist zwar überall auf der Welt verbreitet, aber trotzdem im Sinne eines Referenzsystems, wie es das Bibliothekswesen bildet, wo man weiß, für jedes Buch, also durch Titel, Verlag, Erscheinungsjahr, Seitenzahl, Index usw., wo ein bestimmtes Wissensstück aufzufinden ist, im Verhältnis also zu diesem Bibliothekssystem, was die eigentliche Leistung des typographischen Zeitalter ist, ist das Internet sozusagen blind im Bezug auf Referenzierbarkeit. Das Problem der digitalen Speicherung der Dokumente ist letztlich, dass die Authentizität der Dokumente nicht bewiesen werden kann.

Erinnerung hingegen, also Erinnerung, die vielleicht auch durch Dokumente gestützt ist, hat einen Zusammenhang mit der Verantwortung, die ich eben für ein Wissensstück habe oder zu haben meine. Damit ist Erinnerung zwar nicht sicherer, aber ich weiß, dass es meine Erinnerung ist. Ich kann sozusagen mich selbst referenzieren im Bezug auf das, was ich mir angeeignet und verarbeitet habe. Wie eben schon erwähnt: eine Information wird im Internet ständig erneuert. Ein Internetdokument ist flüchtig. Sein Update ist gleichzeitig sein Verfallsdatum. Die Information ist damit aktuell, aber geschichtslos. Der Weg ihrer Aufarbeitung und Veränderung wird nicht nachgezeichnet und dokumentiert. Es gibt zwar einige Projekte im Internet, die versuchen Versionen zu speichern. Eines hieß Alexa-Projekt, also Bibliothek von Alexandria. Da wurde versucht, eben alle Versionen von wertvollen Websites in jeder Version zu speichern. Man kann sich vorstellen wieviel Tera- oder was kommt danach, Petabyte, an Speicherkapazität ein Server haben muss, der versuchen wollte, alle Webinhalte tatsächlich in allen Versionen aufzuheben. Digitales speichern ist also in gewisser Weise die systematische Fortsetzung des Säurefraßes, der viele Bücher zwischen 1890 und 1980 zumindest bedroht, als bestimmte schwefelhaltige Chemikalien in die Papierherstellung eingeführt wurden. Da stehen alle Bibliotheken der Welt noch vor einem riesigen Problem, wie sie also die in dieser 90-Jahre-Periode gedruckten Bücher eigentlich retten wollen über die nächsten Jahrhunderte. Bei der Erinnerung wird die Flüchtigkeit durch Orte, durch Zeiten und Rituale des Erinnerns aufgefangen. Es gibt Institutionen des Erinnerns, die die Konstante der Erinnerung garantieren: Museen zum Beispiel. Das World Wide Web, beziehungsweise das Netz der digitalen Speicher zu dem die Öffentlichkeit Zugang hat, ist als Informationsspeicher akkumulativ. Erinnerung reagiert selektiv. Es fehlt diesem digitalen System etwas, was den menschlichen Wissensarbeiter auszeichnet, nämlich dass er beständig Wahrgenommenes, Gelesenes vergessen kann, weil es in verdichteter Form in die Entwicklung seiner Wahrnehmungsweise, seines Denkens, seiner Erfahrungsweise eingegangen ist. Vergessen ist für uns gewissermaßen ein Bewahren, das man nicht durch formale Löschvorgänge nachmachen kann. Und das ist ein Problem. Wie organisiert man in einem digitalem System das Vergessen?

Ein Sprung zu den Aufgaben von Archiven: Die Aufgabe von Archiven ist es nicht, -- das heißt, nirgendwo auf der Welt, bei keiner einzigen Institution der Welt, -- Kulturgüter aufzuheben und öffentlich zugänglich zu machen. Die Archive aller Institutionen der typographischen Welt enthalten zunächst die Dokumente, die für die alltägliche Arbeit nicht mehr benötigt werden, die nicht mehr relevant sind, die nicht mehr aktuell sind, die nicht mehr in Arbeitsprozesse hineingehören, die also aus den Handapparaten und aus den aktuellen Ablagen ausgegliedert werden. Wenn es darum gehen soll, Anforderungen an den Zugang zu den Kulturleistungen dieser Archive, die in den Archiven möglicherweise stecken und schlummern, zu formulieren, die auch in den öffentlich-rechtlichen Archiven schlummern, sollte nach meiner Ansicht zunächst an die Voraussetzungen gegangen werden, also: Welches Medium, welche kulturelle Umgebung, welche Kommunikationsverhältnisse sind es eigentlich, über die wir reden, bevor wir zu tatsächlichen Forderungen kommen?

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, um zu denen zu kommen, haben nicht den Auftrag, das wurde schon gesagt von Frank Fremerey, also auch nicht das Geld. Die berühmte Institution KEF, Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, ist sozusagen eine Schnittstelle. Bei der müsste beantragt werden, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten mit ihren Archiven völlig anders umgehen, nach einem ganz anderen Paradigma handeln, als sie es im Moment tun. Es gibt das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA). Das ist eine Gemeinschaftseinrichtung von ARD und ZDF. Dieses Archiv sammelt und archiviert und erschließt und dokumentiert Bild und Ton und Schriftdokumente im Dienste der Rundfunkanstalten, sowie auch im Dienste der Öffentlichkeit. Es ist nicht so, dass diese Dokumente unzugänglich sind. Für wissenschaftliche Zwecke sind alle Archive des deutschen Rundfunks, das deutsche Rundfunkarchiv selber und auch die Archive der einzelnen Landesrundfunkanstalten zugänglich im Rahmen dessen, was sie dokumentiert haben. Dazu komme ich noch. Die Sendungen aus der Zeit von vor 1945 liegen nicht nur in Bezug auf alle Manuskripte, Schriftwechsel usw., sondern auch im Bezug auf die Töne, die noch erhalten sind, tatsächlich im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt. Und aus dieser Sammlung werden immer wieder Dokumente und eben auch Tondokumente im Rahmen von Projekten der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, also Ausstellungen, CDs usw. Das ist der gleiche Umgang, wie ein Museum ihn mit seinem Fundus und seinem Archiv, seinem Magazin hat.

Für die Zeit von 1945 bis heute gibt es so eine Art Gemengelage. Es gibt Archivbestände beim DRA, Deutsches Rundfunkarchiv, und bei den einzelnen Landesrundfunkanstalten. Beim DRA gibt es einen Gesamtkatalog, aber nicht die Töne und Bilder. Aber Gesamtkatalog heißt nicht, dass alles, was gesendet worden ist, erfasst ist. Sondern diese Sammlung ist im wesentlichen Musik-orientiert. Und das hängt damit zusammen, dass das Urheberrecht an Musik sozusagen das stärkste Urheberrecht ist, was die Regelung und die Verträge angeht. Man findet dort Auskünfte über Studioproduktionen, Konzertmitschnitte, Koproduktionen mit Schallplattengesellschaften usw., und es gibt auch einen riesigen Schallplattenkatalog, der für die interne Arbeit aller ARD-Redaktionen zugänglich ist, wo man jede einzelne Schallplatte findet, die jemals in irgendeiner Sendung eines deutschen Radios vorgekommen ist. Was ähnliches gilt für die zeit-, kultur- und mediengeschichtlich bedeutenden Fernsehproduktionen, so heißt es: 'zeit-, kultur- und mediengeschichtlich bedeutend', wer auch immer das wie im Einzelfall entscheidet, seit Gründung des Fernsehens. Wenn man schaut, welche Sendungen da sind: also beispielsweise es gibt nicht alle Tagesschau-Sendungen in diesen Archiven.

Es ist sozusagen ein Segen der deutschen Einheit gewesen, dass es jetzt möglich ist, die Tagesschau vor 30 Jahren zu zeigen, genau wie es jetzt möglich, ist die Aktuelle Kamera zu einem beliebigen Abend von 1973 zu zeigen, weil im Zuge der wechselseitigen Feindbeobachtungen die jeweils andere Seite diese Sendung archiviert hat. Keineswegs wurden diese Sendungen auf der eigenen Seite archiviert, was in der DDR vor allem schon deshalb nicht möglich war, weil es dort auf Grund des Technikembargos der NATO-Staaten gegen den Warschauer Pakt keine Magnetaufzeichnungsgeräte gab. Es gab dann irgendwann mal Nachbauten, die in einem Hochsicherheitstrakt hier in Berlin-Adlershof im Keller standen und jetzt im Deutschen Rundfunkarchiv Ost, das in Potsdam aufgebaut worden ist, auch zu besichtigen sind. Also, über Ungarn eingeführter Nachbau ermöglichte es dann, Magnetaufzeichnungen zu machen. Sonst wurden diese Dinge tatsächlich aufgezeichnet, indem man eine Filmkamera vor einen Fernseher gestellt hat, und man hat dann eben Fernsehsendungen abgefilmt, was eine sehr gute Idee war, weil die frühen Magnetaufzeichnungen durch die sehr kurze Halbwertzeit der Bänder – also anfänglich so in den sechziger, siebziger Jahren vielleicht ein Jahr, zwei, drei Jahre, dann waren diese Bänder fertig – ohnehin sehr bedroht waren.

Ein ganz allgemeines Problem, das wir grundsätzlich mit den neuen technischen Medien haben: Man versucht die jeweils neuen technischen Entwicklungen mit alten Begrifflichkeiten zu interpretieren. Das war beim Buchdruck im übrigen auch der Fall. Einer der wenigen unbestreitbaren Folgen des Buchdrucks ist es ja, dass die alte Gedächtniskultur, die also im Zusammenhang mit der Rhetorik entstanden ist, die Mnemotechnik oder Ars Memoriae, wie sie genannt wurde, innerhalb von historisch sehr kurzer Zeit, sagen wir mal von 150 Jahren, verschwunden ist. Um 1600 wurde Giordano Bruno, der noch versuchte, die antiken Errungenschaften dieser Gedächtniskunst zusammenzufassen in einem Buch, verbrannt wegen eines Buches. Seitdem ist aber der Übergang von dieser rhetorisch auf Mündlichkeit eingestellten Kultur zu einer Kultur der technischen Medien, wozu eben auch schon der Buchdruck gehört, vollzogen worden. Und es gab anfänglich beim Buchdruck massenweise gedruckte Reflexionen darüber, wie man diesen Umschwung, diese Umwälzung verarbeiten könnte. Genauso ist es ja auch heute bei den Computern und beim Internet der Fall. Also jeder versucht zu reflektieren, was das denn jetzt nun eigentlich darstellt, und diese Reflexion findet in den Begriffen der Kultur statt, die gerade überwunden wird. Man hat lange Zeit auch versucht, wie im Fall von Giordano Bruno, mit Büchern die Unterstützung des Gedächtnisses zu leisten. Man hat also permanent Handbücher geschrieben, Materialsammlungen, Gedächtnisstützen.

Zur Zeit ist zu beobachten, dass wir mit der neuen Technologie dasselbe machen. Also, z. B.: „Zugang für alle zu allen Informationen“ ist in meinen Augen eine solche Formel. Mit dem Internet ist eine virtuell wirklich unbegrenzte Zahl von Informationen verfügbar, was dazu führt, dass die Information an sich keinen Wert mehr hat. Man bewertet das Internet aber immer noch nach der alten, am Buchmodel orientierten Archivvorstellung, wonach man um so reicher ist, je mehr Informationen man besitzt. Die grundlegende Leistung der Buchkultur unter dem Aspekt der kulturellen oder sozialen Informationsverarbeitung ist tatsächlich die Ermöglichung von interaktionsfreier oder vorsichtig gesagt hochgradig interaktionsarmer Informationsverarbeitung. Es ist einfach möglich, mit diesem typographischen Medium im Zusammenhang mit vielen anderen – das liegt nicht daran, dass man den Buchdruck erfindet, sondern es müssen auch viele soziale Institutionen geschaffen werden, dann ist es tatsächlich möglich, dass wir uns verständigen können, ohne uns wechselseitig zu sehen –, dass wir auch aus Büchern lernen können und diese Bücher als Medium der Verständigung zwischen uns benutzen können.

Das Internet führt auf einer technisch völlig anderen Grundlage als früher wieder den Wissenserwerb im Dialog ein. Der Dialog aber jetzt nicht als Zwiegespräch, sondern als Form des Austauschs zwischen Kommunikatoren, die sich ihrer Unterschiedlichkeit bewusst sind, hoffentlich, und die nicht das Ziel haben, allgemeine Wahrheit zu finden, die für alle verbindlich ist oder den Anderen zu überzeugen, ihn also mit den Mitteln der Rhetorik niederzuringen oder zu bekämpfen. Der Kommunikationsbegriff zur Zeit vor der Buchkultur, dieser rhetorische Kommunikationsbegriff war ein reiner Kampfbegriff. Also, die Rhetorik als die Rede, als Waffe, mit der man den Gegner niederringt. In der Buchkultur ist der Kommunikationsbegriff der, dass man den anderen überzeugt, indem man ihn auf allgemeine Regeln festlegt, ein abstraktes Drittes, also „die Wahrheit“, sucht und sich darunter versammelt. Die neue Dialogform und Dialogfähigkeit, die also z. B. Michael Gieseke, Kommunikationswissenschaftler, propagiert und ökologisch-kulturellen Dialog nennt, setzt voraus, dass wir die Unterschiede zwischen den Dialogpartnern erkennen und sie bestehen lassen, aber trotzdem versuchen, miteinander in Kontakt zu kommen. Also, wir erreichen Verständigung nicht dadurch, dass wir einen Konsens erzeugen, dass wir einer Meinung sind, sondern wir erreichen einen Zusammenhang dadurch, dass wir die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit bestehen lassen, aber selbst in der Lage sind, diese Unterschiedlichkeit einzuschätzen und zu achten und vielleicht sogar einiges von dem zu übernehmen, was andere sagen, das ist nicht ausgeschlossen. In den Dialog als Kommunikatoren eingeschlossen sind auch die technischen Apparate. In der Vorstellung von Friedrich Kittler ist sogar der Begriff der Gesellschaft abgelöst durch die Gemeinschaft von Menschen, Maschinen und Engeln.

Zusammengefasst: Der Rundfunk ist als elektronisches Medium in der auslaufenden, typographischen Epoche in eine Art Zwitterrolle. Er wird gerade in jedem Modul: Produktion, Verteilung, Empfang digitalisiert, oder das ist schon geschehen. Und er wird jetzt mit Fragen belastet, die – in meinen Augen jedenfalls – noch gar nicht zielklar sind. Die Frage nach der Kontrolle von Wissen ist in den letzten 550 Jahren durch die Buchkultur praktisch beantwortet. Hierarchisiertes Wissen, Widerspruchsfreiheit, Wiederholbarkeit, Verallgemeinerbarkeit, um das Wort 'global' zu vermeiden, das in dem Zusammenhang ja gern verwendet wird, das sind die höchsten Werte dieser Kultur. Und diese Werte können nur funktionieren, wenn sie machtgestützt sind – oder man sagt etwas euphemistisch: durch das Marktgefüge gestützt sind. Jenseits der Buchkultur, also genau an der Schnittstelle, an der wir heute stehen, geht es vermutlich um Wissen, das anders strukturiert ist als in den letzten 550 Jahren, und im Hinblick darauf ist die Frage nach der Kontrolle vielleicht ohnehin obsolet. Weil es in dem mediengestützten Dialog dieser 'giesekeschen' Prägung um Kontrolle gar nicht mehr geht. Was in der derzeitigen Umbruchphase interessant ist, ist der Versuch, ein strukturell andersartiges Medium, das Internet z. B., so zu betreiben, als sei es ein Bestandteil der Buchkultur und ließe sich in das traditionelle Marktgefüge integrieren. Also das, was als Kommerzialisierung bezeichnet wird, ist eben die Überlagerung der Regeln im Grunde der typographischen Kultur, die mit diesem Markt entstanden ist oder in deren Zusammenhang eben auch das Marktgefüge entstanden ist, auf dieses Pflänzchen des digitalen Mediums. Das gilt im übrigen auch für die Diskussionen über dieses Medium, finde ich, in denen es vielfach einfach um die Verlängerung der vorhandenen Mechanismen geht durch einfache Umkehrung: Copyright - Copyleft.

Die Diskussion über Archive sollte damit beginnen, dass wir uns fragen, was wir von dem, was wir jetzt in den digitalen Umgebungen produzieren, aufbewahren wollen und wie das geschehen soll. Also, nicht der Kampf um die Umdefinition der Werte der Buchkultur, sondern um eine Neudefinition einer digitalen Kultur des Bewahrens. Das ist für mich zunächst und vor allem die Frage nach den Möglichkeiten des Selektierens, des Filterns, der Aufarbeitung, des Lektorats, also eines professionellen Aspekts, der Agenturen, eines institutionellen Aspekts und damit auch immer die Frage nach den Kosten und den Trägern.




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